Was ist ein Verlust?
- Andrea Kolmitzer
- 8. Jan.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Jan.
Gerade noch war es da: Das Leben eines nahestehenden Menschen. Körperliche Unversehrtheit. Die Liebe einer Bezugsperson. Die Nähe eines anderen Lebewesens. Sozialer Status. Ordnung. Zugehörigkeit. Ein optimistischer Blick in die Zukunft. Und plötzlich - ist es weg. Der Tod eines geliebten Menschen, das Schwinden von Lebensqualität, von Struktur, Frieden oder Hoffnung erleben wir als so schmerzhaft, dass uns mitunter die Worte fehlen.
Im soziologischen Sinn stellt eine Verlusterfahrung zunächst eine Enttäuschung dar. In der modernen Gesellschaft widerspricht ein Verlust dem Fortschrittsglauben, der uns von klein auf eingetrichtert wird: Dass sich alles weiterentwickeln muss, besser werden muss, wachsen muss. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von Verlustparadoxie: Die westliche Gesellschaft strebt zum einen danach, Verluste unsichtbar zu machen, zu verhindern oder zu minimieren. Zum anderen vermehren wir ständig Verluste, indem wir "Altes" entwerten, entsorgen und durch Neues ersetzen. Wir verdrängen, verleugnen oder sanktionieren verlusttypische Gefühle wie Trauer, Enttäuschung oder Angst. Gleichzeitig widmen wir uns aber auch mit Hingabe traurigen Filmen oder tragischen Romanen. Die intensive Beschäftigung mit Verlusterfahrungen spiegelt sich auch in den Regalen der Lebenshilfe-Abteilung unserer Buchläden: Zu kaum einem anderen Thema erscheinen derart viele Ratgeber wie zum Thema Tod, Trauer und Trauerbegleitung. Unzählige Podcasts widmen sich diesen Themen. Die weitverbreitete These, nach der Tod und Trauer ein Tabu darstellt, kann also zumindest in Frage gestellt werden.

Fest steht: Wir interpretieren das Verschwinden einer Person, eines Zustands oder eines Objekts nur dann als Verlust, wenn wir emotional stark an diese Person oder Einheit gebunden sind. "Verlieren" kann man in diesem Sinn also nur etwas, das man vorher geliebt hat. Die Liebe zum Verlustobjekt kann verschiedene Formen annehmen: Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit, Fürsorge oder aber auch Faszination oder Begehren sorgen für Bindung und eine Art von Befriedigung. Fällt diese Befriedigung auf einmal weg, schlagen die vormals positiven in negative Emotionen um: Wir sind geschockt, fühlen uns traurig, wütend, manchmal auch schuldig. Wir haben Angst, sind entsetzt, fühlen uns handlungs- und orientierungslos. Handelt es sich um einen irreversiblen Verlust - wie etwa beim Tod eines geliebten Menschen - und werden wir uns der Endgültigkeit des Verlusts bewusst, so können sich die negativen Emotionen bis hin zu Ohnmachtsgefühlen und Verzweiflung steigern. Wir können den Verlust nicht ungeschehen machen - wir sind ihm quasi ausgeliefert.
Ein Verlust wird also nicht nur zum Verlust, weil wir ihn als solchen bewerten. Ein Verlust geht Hand in Hand mit emotionalen Reaktionen. Bewerten wir den Verlust negativ, so zieht dies negative emotionale Reaktionen nach sich. Wenn wir stark an die verlorene Person oder den verlorenen Zustand gebunden sind, begreifen wir den Verlust gar als eine Art "Selbst- und Weltverlust" (Reckwitz 2024, S. 33). Es fühlt sich so an, als würden wir mit der verlorenen Einheit unsere Identität, also uns selbst, oder einen Teil von uns selbst verlieren. Es ist tatsächlich ein kleiner Weltuntergang.
Nun ist Identität aber zum Glück nicht statisch oder festumrissen - sondern im Gegenteil prozesshaft und veränderbar. Und darin liegt auch das Potenzial für die Aufarbeitung des Verlusts: Verlustpraktiken helfen uns dabei, uns an eine Welt ohne die verlorene Person oder den verlorenen Zustand anzupassen. Verlustpraktiken können verschiedene Formen annehmen: Psychologische Beratung, Psychotherapie, Bewegung in der Natur, Abschiedsrituale, die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, das Lesen von Ratgebern oder auch einfach Gespräche mit vertrauten Menschen helfen uns bei der Neuorientierung in einem Leben ohne die geliebte Bezugsperson oder den geliebten Zustand.
Quelle: Andreas Reckwitz: Verlust - Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, 2024
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